Aller Anfang ist leer
Verfasst von Rainer Innreiter
Datum: 04. Dezember 2004
 
Die Motive, mit dem Schreiben von Geschichten oder gar Romanen zu beginnen, sind mannigfaltig: Der eine träumt davon, sämtlicher finanzieller Sorgen entlastet zu sein, sobald er nur ein paar seiner zweifellos genialen Einfälle zu Papier gebracht hat ("Was der Hohlbein kann, kann ich ja wohl auch!"); der andere hat erst kürzlich erfahren, dass eine Kurzgeschichte seines Kumpels in einer Anthologie abgedruckt wurde und möchte es ihm gleichtun. Ob eines dieser Motive auf Sie zutrifft oder Ihre Absichten völlig anders gelagert sind ("Alle Welt soll erfahren, was für eine miese Schlampe meine Alte war!"), spielt keine Rolle.
Wichtig ist, dass Sie begreifen, was vor Ihnen liegt: Jahre meist erfolglosen Schreibens; quälende Hoffnungslosigkeit, weil Ihre lustige Hausfrauen-Geschichte über tollpatschige Männer im trauten Haushalt von Testlesern mit einem verzerrten, aufgesetzten Lächeln quittiert wurde; Absagen von Verlagen ("Ihr Manuskript entsprach leider nicht ganz unserem Verlagsprogramm. Aber trotzdem Danke – Schmierpapier kann man immer brauchen"); höhnische Fragen von Bekannten, á lá "Na, wann erscheint denn endlich dein erster Roman bei Heyne?"; und vieles mehr, das zu grausam ist, um es auf einer jugendfreien Seite auch nur zu erwähnen.
Kurzum: Ehe Sie ein Word-Dokument aufmachen und auf ein leeres Arbeitsblatt starren in der vagen Hoffnung, es würde sich von selber mit Worten füllen, wenn Sie es sich nur lange genug wünschen, sollten Sie sich die entscheidende Frage stellen: Will ich das wirklich?
Bitte sprechen Sie mir nach: "Will-Ich-Das-Wirklich? Bin ich bereit, jahrelang ganze Wochenenden für das Schreiben zu opfern, obwohl meine ersten Geschichten mit erschütternd hoher Wahrscheinlichkeit für die Tonne sind? Habe ich keine Probleme damit, fiese Kommentare unter meinen im Internet veröffentlichten Geschichten zu finden? Kann ich es verwinden, wenn meine vierzig ersten Geschichten nicht einmal im billigsten Schundheft abgedruckt werden? Bereitet es mir keinerlei Unbehagen, dass ich vielleicht niemals auch nur einen Cent für eine meiner Geschichten sehen werde?"
Das wollen Sie nicht? Dann sparen Sie sich die Zeit, lesen Sie den nächsten Artikel oder gehen Sie eine Runde an die frische Luft.


Ach, Sie sind ja immer noch hier! Ich habe Sie also nicht abgeschreckt? Gut. Denn nach all diesen deprimierenden Aussichten habe ich auch eine gute Nachricht für Sie: Mit ein bisschen gutem Willen, viel Geduld und etwas Talent, kann man es fast gar nicht verhindern, früher oder später seinen Namen auf dem Klappentext einer Anthologie abgedruckt zu finden.
Bis da hin ist es freilich ein harter, beschwerlicher Weg, den keiner bequem mit dem Flugzeug oder dem Auto zurücklegt.
Keiner? Nein, keiner! Sie nicht, ich nicht, und selbst Stephen King wäre fast verzweifelt.
In den Medien wird bei Autoren wie King der Anschein erweckt, sie wären quasi über Nacht "entdeckt" und somit unweigerlich reich und berühmt geworden. Die Wahrheit ist ernüchternder: Ehe Kings erster Roman ("Carrie") von einem großen Verlag gedruckt worden war, hatte Maines berühmtester Sohn mehrere Romane verfasst, die von jedem Verlag abgelehnt wurden. Wohlgemerkt: Zu einer Zeit, als King dutzende Geschichten an Literaturzeitschriften oder Männermagazine verkauft hatte!
Die Mär vom Hobby-Autor, der gleich mit seinem ersten Werk Weltruhm erlangt, ist in den Bereich der Phantasie verträumter Journalistenköpfe zu rücken.

Im konkreten Fall des Verfassers dieses wundervollen Artikels dauerte es rund ein Jahrzehnt, bis er zum ersten Mal eine seiner Kurzgeschichten in einem Fanzine abgedruckt bewundern durfte. Jawohl - zehn Jahre! Erdenjahre! Menschenjahre, keine Hundejahre!
Zweifelsohne lässt sich dies auf das höchst bescheidene literarische Talent des Autors zurückführen.
Faktum ist aber, dass Sie sich mitunter sehr, sehr lange gedulden müssen, bis etwas halbwegs Brauchbares vom Gehirn in die flinken Fingerchen fließt.

Bekanntlich wurde Rom nicht an einem Tag gebaut, und genau so wenig werden Sie gleich mit Ihrer ersten Geschichte Ruhm und Ehre ernten. Selbst ein Franz Beckenbauer wurde nicht in den Kader des FC Bayern hineingeboren; nein, sogar Kaiser Franz begann ganz unten und arbeitete sich konsequent nach oben. Mit Sicherheit gab es talentiertere Spieler wie ihn; Jungen, die balltechnisch mehr Können als Beckenbauer aufwiesen; Jugendliche, die präziser Pässe schlagen konnten; aber während diese in ihrer Entwicklung stecken blieben oder nach ein paar Misserfolgen die Flinte ins Korn schmissen, biss sich Beckenbauer durch.
Warum ich Ihnen all dies erzähle? Weil es beim Schreiben zu einem beträchtlichen Teil um nichts anderes geht: Geduld, Ausdauer, Konsequenz.

Kehren wir zu unserem leeren Word-Dokument zurück. Es wird ein treuer Wegbegleiter bei Ihrem literarischen Schaffen sein, denn kaum haben Sie unter eine Geschichte das Wort ENDE frohlockend getippt, wartet das nächste jungfräuliche Arbeitsblatt auf Sie.
Selbst nach unzähligen Kurzgeschichten und/oder Romanen wird für Sie das monotone Blinken des Cursors auf einer leeren Word-Seite der Inbegriff des Schreckens bleiben!
Aber wie jedem Schrecken, so wohnt auch diesem eine Verlockung inne, der wir uns nicht entziehen können.
Also: Worauf warten Sie noch? Ihre nächste Geschichte schreibt sich nicht von alleine ...

 
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